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TAGESANZEIGER

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Jon Mettler

23. Februar 2020 um 00:00:00

Seit der Jahrtausendwende konzentriert sich der drittgrösste Exportzweig der Schweiz auf den Verkauf von Luxusuhren. Das könnte sich nun rächen.

Der Verlust an Arbeitsplätzen war dramatisch: Über 50’000 Stellen gingen in der Schweizer Uhrenindustrie zwischen 1970 und 1985 verloren. Die Branche stand am Rande des Zusammenbruchs. Es war eine Krise mit Ankündigung: Jährlich nahm die Zahl exportierter Uhren ab. Die Mengen näherten sich der psychologisch wichtigen Marke von 20 Millionen Stück und fielen Anfang der 1980er-Jahre darunter.

Damals flutete die japanische Konkurrenz die Märkte mit günstigen und qualitativ hochstehenden Quarzuhren. Die neue Technologie hatte das Potenzial, die mechanischen Uhren zu ersetzen. Die Schweizer Uhrenindustrie konnte dem bis zur Lancierung der Marke Swatch nichts entgegensetzen.

Heute stehen die Zeichen erneut auf Alarm: Die Uhrenexporte liegen nach 2009 wieder bei der Grenze von 20 Millionen Stück. Das zeigen die aktuellen Zahlen fürs abgelaufene Geschäftsjahr. Das Niveau ist mit dem Volumen beim Einbruch zu Beginn der 1980er-Jahre zu vergleichen.

Apple überrumpelte die traditionellen Hersteller

War im Jahr 2009 die weltweite Finanzkrise für den Rückgang exportierter Uhren verantwortlich, so kommen jetzt tiefer liegende Probleme zum Vorschein: Wertmässig hat der drittgrösste Exportzweig des Landes bei den Ausfuhren zwar das vierte Jahr in Folge zugelegt, dank der teuren Luxusuhren. Die Rede ist von Marken wie Rolex, Omega, Breitling oder IWC. Solche Produkte exportieren die Hersteller zu einem Preis von über 3000 Franken. Im Laden kann dieser Betrag aber bis zu dreimal höher ausfallen.

Doch die Branche liefert immer weniger Zeitmesser aus dem unteren und mittleren Preissegment ins Ausland. Gemeint sind Uhren zu einem Exportpreis von bis zu 200 Franken respektive 200 bis 3000 Franken. Marken wie Swatch, Tissot und Certina des Bieler Konzerns Swatch Group sind in dieser Preiskategorie angesiedelt. Sie sollen die Konsumenten dazu bewegen, sich später eine Luxusuhr zu leisten.

Die aktuelle Ausgangslage sei nicht vergleichbar mit den 1980er-Jahren; die Branche sei heute robuster aufgestellt: Das sagt Jean-Daniel Pasche, Präsident des Dachverbands der Schweizer Uhrenindustrie. «Damals waren die Exportvolumen wie auch die Umsätze in sämtlichen Preisklassen rückläufig», so Pasche.

Trotzdem lässt sich die abnehmende Tendenz bei den preisgünstigen Einsteigermodellen seit fünf Jahren verstärkt beobachten. Das ist kein Zufall, denn 2015 lancierte Apple die Smartwatch: Ein kleiner Computer fürs Handgelenk, der etwa mit Gesundheitsfunktionen eine technologische Alternative zur klassischen Armbanduhr bietet.

Mit seiner Preispolitik für die Apple Watch überrumpelte der US-Technologiekonzern die Schweizer: Die Patrons hatten damit gerechnet, dass Apple die Smartwatch im Luxusbereich positioniert, wo sich die hiesige Uhrenindustrie als unschlagbar sieht. Stattdessen griff Apple das untere und mittlere Preissegment an.
Apples Plan geht auf: Laut der Daten-Plattform Strategy Analytics hat Apple im Jahr 2019 mehr Smartwatches ausgeliefert als die Schweizer Uhrenindustrie als Ganzes.

Gehofft wird nun auf neue Freihandelsabkommen

Für Branchenkenner greift es indes zu kurz, allein die neuartigen Uhren für die Misere der Uhrenindustrie verantwortlich zu machen. Pierre-Yves Donzé, Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Osaka mit Spezialgebiet Uhrenindustrie, sieht vielmehr ein «langsames Ende der Schweizer Uhr im Einsteigersegment». Dies nehme die Branche in Kauf, denn seit dem Jahrtausendwechsel konzentriere sie sich bewusst auf den Verkauf der einträglicheren Luxusuhren.

Die schleichende Aufgabe des unteren und mittleren Preissegments erfüllt auch François Courvoisier mit Sorge. Wenn jemand durch diese Entwicklung gefährdet sei, dann die Zulieferer, weil weniger Komponenten nachgefragt seien, sagt der Honorarprofessor der Fachhochschule Westschweiz. «Dies stellt eine ernsthafte Bedrohung für die uhrmacherische Industriebasis dar.»

Aus Courvoisiers Sicht bröckelt also ausgerechnet jener Grundstein, der Mitte der 1980er-Jahre mit der Massenproduktion der Swatch gelegt wurde und später zum Fundament für die Erholung der gesamten Uhrenindustrie wurde.

Der Liebesentzug für die billigeren Zeitmesser sorgt bei den Angestellten für Verunsicherung, bestätigen die Arbeitnehmerverbände. «Gewährsleute in den Manufakturen berichten uns, dass sie die aktuelle Entwicklung demotiviere», sagt Virginie Pilault von der Gewerkschaft Unia. Wenn das so weitergehe, dann seien Entlassungen nicht ausgeschlossen – «vor allem bei den Zulieferern».

Diego Frieden von der Gewerkschaft Syna ergänzt: «Die Mitarbeiter in der Branche spüren, dass eine gewisse Nervosität unter den Arbeitgebern herrscht.» Jean-Daniel Pasche vom Dachverband versucht zu beruhigen: «Es ist wichtig, dass die Uhrenindustrie sich in allen Preissegmenten positiv entwickelt.» Wie das zu erreichen ist, darüber gibt es unterschiedliche Meinungen.

Die Branche hofft, dank neuer Freihandelsabkommen mehr kostengünstige Uhren ohne Hemmnisse auf neuen Märkten zu verkaufen. Der Blick ist etwa auf Südamerika gerichtet. Die Gewerkschaften pochen darauf, dass die Branche ihre Mitarbeiter fit macht für die Digitalisierung. Die Marketingexperten schliesslich raten dazu, die Konsumentengruppe der Millennials besser zu verstehen und ihr innovative Produkte zu einem guten Preis anzubieten.

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