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WELTWOCHE

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Karl Lüönd

11. März 2021 um 00:00:00

Karl Lüönd über die Neuerscheinung «Anarchistische Uhrmacher in der Schweiz» von Florian Eitel: Mikrohistorische Globalgeschichte zu den Anfängen der anarchistischen Bewegung im 19. Jahrhundert.

Der Anarchismus beruft sich auf die Freiheit und die Autonomie der Menschen und hat eine neue Gesellschaft zum Ziel, die aus freien Produktionsgemeinschaften besteht. Auch strebt er die Kollektivierung der Produktionsmittel an, doch im Gegensatz zum Marxismus mit seinem zentralistischen Ansatz gleich auch die Abschaffung der Staaten.

Anarchismus lehnt jede Herrschaft von Menschen über Menschen ab. Hierarchie bedeutet für ihn prinzipiell Unterdrückung. Dieser gegenüber steht eine idealistische Lebensform: Die Individuen leben freiwillig, selbstbestimmt und föderal in Kollektiven, die sich selbst verwalten und vernetzen.

Soweit die Theorie der Frühzeit. Sie hat noch nichts zu tun mit den Gewalttaten, die eine Generation später im Namen des Anarchismus begangen werden. In der Schweiz entstand die erste starke anarchistische Bewegung im Uhrmachergebiet, das immer besonders anfällig war für Krisensignale aus aller Welt. Als Folge der von den USA ausgehenden stürmischen Industrialisierung und Globalisierung geriet die extrem arbeitsteilige handwerkliche Uhrenfertigung mit ihren vielen eigenwilligen Selbständigen im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts unter grossen Druck.

Tiefschürfendes Geschichtswerk

Im Anarchismus sahen viele eine Gegenstrategie. «Die Anarchisten wollten versuchen, mit den Mitteln der Globalisierung eine eigene Welt aufzubauen. Sie wollten eigentlich eine Art alternative Globalisierung – von unten nach oben», sagt der in Biel lebende Historiker Florian Eitel. Er hat in fünf Jahren das Buch «Anarchistische Uhrmacher in der Schweiz» geschrieben, das anhand der Verhältnisse im Vallon, dem Taleinschnitt zwischen Sonvilier und Saint-Imier im Berner Jura, die sozialen und politischen Randbedingungen der Uhrenindustrie zwischen 1866 und 1881 beleuchtet. Aus der historischen Dissertation ist ein tiefschürfendes, brillantes Geschichtswerk entstanden.

Den besonderen, aus Geschichte, geografischer Situierung und politischen Bedingungen zusammengesetzten Status der Uhrenindustrie hat die deutsche Schweiz bis jetzt nie richtig verstanden. Bis zur Umwälzung unter Hayek und zum enormen Aufschwung in neuester Zeit haben sich die gleichen Besonderheiten der Uhrenindustrie immer wieder geltend gemacht: politischer Druck, Zwangskartellisierung und der Versuch, Märkte staatlich zu lenken.

Die geografische Konzentration der Uhrenindustrie in den Kantonen Bern und Neuenburg führte zu einer starken Politisierung der Branche. In allen Uhrenkartellen sassen die Gewerkschaften mit am Tisch. Über ihre Kantonalbanken gingen die Uhrenkantone unglaubliche Kreditrisiken zugunsten der Industrie ein. Die heutige Finma würde ausrasten!

Eitels Buch ist eine Chance, die Deutschschweizer Bildungslücke in Sachen Uhrengeschichte zu schliessen und besser zu verstehen, wie die heute zweitwichtigste Exportindustrie dieses Landes tickt. Die strenge Konzentration auf kleine zeitliche und geografische Fenster führt zu einer bewundernswerten Tiefenschärfe der Darstellung der ökonomischen und politischen Zustände, weit über das Kernthema der Studie hinaus. Eitel legt seine Anarchisten-Darstellung auf einen üppigen Teppich von wirtschafts- und kulturgeschichtlichen Daten und Dokumenten.

Die Produktion beruht auf dem «Verlagssystem», ähnlich wie zur gleichen Zeit in der Ostschweizer Textilindustrie. Dieses Verlagssystem brachte im Jura ganze Generationen von Werktätigen hervor, die zugleich arme Proletarier und vermeintlich freie, sicher aber risikotragende Unternehmer waren, was dem politischen Konzept des Anarchismus entgegenkam. Anscheinend waren es nie viel mehr als 400 Aktivisten, die im Jura dem Anarchismus anhingen. Ihr politischer Einfluss blieb kurzfristig gering. Langfristig wirkten sie wie das Salz in der gesellschaftlichen Suppe. Sie wurden von Freund und Feind wohl stärker respektiert, als sie selbst glaubten.

Langfristig wirkten die Anarchisten im Jura wie das Salz in der gesellschaftlichen Suppe.

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