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AutorenbildA. Angelo Nottaris

WAS BRINGT SWISS MADE?

Aktualisiert: 30. Okt. 2024

New York Times und Karl Marx wissen es. Und Sie?


Fast drei Jahre haben wir zwei Prototypen des Modells UNI:SEX in der Werkstatt

und am Handgelenk auf Herz und Nieren geprüft. Sie haben sich als robust und

probat erwiesen, Konstruktion, Design und Material haben sich ergo bewährt.

So scheinen mir Verbesserungen einzig im Kleinen noch zielführend, wobei ich

unterschätzt habe, dass doch just im Detail der Teufel besonders gerne steckt.


Planzeichnung des UNI:SEX-Prototyps mit dem konstruktionsbedingten Spalt.

Planzeichnung des UNI:SEX-Prototyps mit dem konstruktionsbedingten Spalt.



WENIGER DRÄCK

Herkömmliche Uhren werden genauso gebaut, trotzdem ärgert mich der

Schmutz, der sich im Spalt über der Dichtung (rot) zwischen Gehäuse (grau) und

Uhrglas (blau) ansammelt. Doch ohne Spalt gibt’s keine Dichtung, dafür Wasser

im Uhrwerk und dafür kommen Uhrenentwickler in die Hölle. Gut, verriet mir einst

der heutige Entwicklungschef von BREITLING, wie sich das Dilemma lösen lässt.


WEG MIT DEM SPALT

Nur sind dafür umfangreiche Anpassungen nötig. Kein Problem beim

Gehäuse, weil wir das Giessverfahren selbst entwickelt haben. Ansonsten

kompliziert, weil wir keine Fabrik für Uhrglas und keine Kautschuk-Produktion

für Dichtungen haben und auch keine Gerberei für Uhrbänder, keine

Raffinerie für Schmieröl und keine Druckerei für Zifferblätter. SEIKO schon.


DEZENTRALE SPEZIALISIERUNG

Das japanische Firmen-Konglomerat stellt alle Uhrenteile selbst her: mit

13'000 spezialisierten Mitarbeitenden auf 300 Standorte dezentral verteilt.

Warum dezentral? Wäre zentralisiert nicht effektiver? Fakt ist: SEIKO wurde

1881 gegründet, um japanische Uhrengehäuse mit Import-Uhrwerken zu

bestücken, die in La Chaux-de-Fonds per ÉTABLISSAGE hergestellt wurden.


WER HAT’S ERFUNDEN?

Früher baut jeder Uhrmacher seine Uhren selbst und so bauen im 18. Jh. auch

in den «Fabriques Genevoises» mehrere Uhrmacher mehrere Uhren. La

Chaux-de-Fonds geht’s anders an, wie die New York Times kürzlich festhält:

«Einer stellte in der Werkstatt im Wohnzimmer Zifferblätter her, der Nachbar

spezialisierte sich auf Unruhen und ein weiterer Kollege produzierte Kronen».



La Chaux-de-Fonds 1863, rechts im Bild Eisenbahntunnel und Bahnhof

La Chaux-de-Fonds 1863, rechts im Bild Eisenbahntunnel und Bahnhof


ERFOLGREICHE HOMEOFFICES

Diese «auf Arbeitsteilung beruhende Kooperation» nennt sich ÉTABLISSAGE

und ist erfolgreicher als die zentralisierten «Fabriques Genevoises», wie Karl

Marx 1867 aus Exportzahlen berechnet und hier Recht behalten soll: Immer

mehr Genfer Uhrenteile stammen aus La Chaux-de-Fonds und die dezentrale

Spezialisierung breitet sich über Le Locle und Fleurier in der Schweiz aus.


EIN PRINZIP SETZT SICH DURCH

Weil verschiedene Zulieferer:innen an der Herstellung einer Uhr beteiligt

sind, können sie sich auf Kompetenzen wie Uhrwerke, Zifferblätter oder

Zeiger spezialisieren, Fähigkeiten und Fertigkeiten fortlaufend verbessern

und so die Qualität steigern, während sie unabhängig und flexibel bleiben und

auf folglich Marktveränderungen beweglich und schnell reagieren können.



Postkarte mit Luftansicht von Le Locle. Undatiert, mutmasslich 1950er Jahre.

Postkarte mit Luftansicht von Le Locle. Undatiert, mutmasslich 1950er Jahre.


AGIL UND RESILIENT

So führen Entwicklungen in der Mode und beim Konsum zu innovativen

Produkten und Produktionen, während unabhängig angepasste Kapazitäten

und Mengen belastbare Lieferketten schaffen und zusätzlich Resistenz und

Resilienz, wofür exemplarisch die grossen Krisen des letzten Jahrhunderts

stehen. Nur liegen die Nachteile der ÉTABLISSAGE auch offen auf dem Tisch.


GUT UND TEUER

In Japan übernimmt der Weltkonzern SEIKO die Kosten der dezentralen

Spezialisierung, in der Schweiz werden sie mit dem Gütesiegel SWISS MADE

plausibilisiert, während die ÉTABLISSAGE wiederum den Qualitätsanspruch

SWISS MADE garantiert. Das heisst: Ohne SWISS MADE keine

ÉTABLISSAGE und ohne ÉTABLISSAGE kein SWISS MADE. Ein Problem:


Der Spalt verschwindet, da die Dichtung (rot) so im Gehäuse (violett) «versteckt» wird

Der Spalt verschwindet, da die Dichtung (rot) so im Gehäuse (violett) «versteckt» wird


TEUFLISCHER SPALT

Marken, mit ÉTABLISSAGE zu Konzernen gewachsen, brauchen sie nicht

länger und möchten die Wertschöpfung selbst generieren, während kleinere

Marken sich SWISS MADE kaum mehr leisten können. Warum, zeigt die Spalt-

Lösung von Massimo Longo, Konstrukteur bei OMEGA, ETA, ROVENTA-

HENNEX und heute BREITLING, alle durch ÉTABLISSAGE verbunden.


IN TEUFELS KÜCHE

Kleinere Uhrenhersteller:innen geraten immer dann in die Bredouille, wenn

eine Verbesserung zwar möglich, aber nicht SWISS MADE ist. Massimos

spaltfreie Lösung bedingt Uhrgläser, die vom Standard abweichen. Diese

werden in China 80 % günstiger gefräst als in der Schweiz. Konkret handelt es

sich um kratzfestes Saphirglas und eine vierstellige Differenz für 22 Uhrgläser.


Rendering des Modells UNI:SEX

Rendering des Modells UNI:SEX


SPALT ODER SPALTFREI

Die Produktion der 22 UNI:SEX-Urversionen ist eng kalkuliert, die erste Uhr

sollte deutlich unter 10'000 Franken kosten, darum haben wir kaum Luft, die

Luft im Spalt wegzukriegen. Gut, haben alle Käufer:innen die Prototypen

probegetragen, niemand erwartet eine spaltfreie Uhr. Nur werden ich und

Patrick vom Partnerbetrieb einfach nicht glücklich MIT Spalt. Was nun?


SPALTLOS GLÜCKLICH

FAKT 1: Patrick und ich streben 100 % SWISS MADE an. FAKT 2: Unsere Uhr

ist heute 98 % SWISS MADE, weil der Silizium-Anker nicht in der Schweiz

bezogen werden kann. FAKT 3: Eine Uhr gilt als SWISS MADE, wenn 60 % der

Teile in der Schweiz hergestellt sind. FAZIT: Wir schaffen mit einer roten Linie

neue Fakten: Unsere Uhren sind künftig mindestens 90 % SWISS MADE.


Urban chic, wristwatch shot UNI:SEX Urversion

Oihane N. A. mit dem Prototyp der UNI:SEX Urversion.


VISION WURDE WAHR

So können wir ohne finanzielle Salti 22 spaltfreie Urversionen bauen. Enfin!

Gerne berichte ich im neuen Blog wieder über alltägliche Dramen, die Patrick

Gilomen und ich im ATELIER DES MONTRES NOTTARIS in Zuchwil und in

der Zürcher Entwicklungswerkstatt erleben. Wir, die nach der Matura vor 11

Jahren beschlossen, eines Tages gemeinsam eine Uhrenmarke zu gründen

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