New York Times und Karl Marx wissen es. Und Sie?
Fast drei Jahre haben wir zwei Prototypen des Modells UNI:SEX in der Werkstatt
und am Handgelenk auf Herz und Nieren geprüft. Sie haben sich als robust und
probat erwiesen, Konstruktion, Design und Material haben sich ergo bewährt.
So scheinen mir Verbesserungen einzig im Kleinen noch zielführend, wobei ich
unterschätzt habe, dass doch just im Detail der Teufel besonders gerne steckt.
Planzeichnung des UNI:SEX-Prototyps mit dem konstruktionsbedingten Spalt.
WENIGER DRÄCK
Herkömmliche Uhren werden genauso gebaut, trotzdem ärgert mich der
Schmutz, der sich im Spalt über der Dichtung (rot) zwischen Gehäuse (grau) und
Uhrglas (blau) ansammelt. Doch ohne Spalt gibt’s keine Dichtung, dafür Wasser
im Uhrwerk und dafür kommen Uhrenentwickler in die Hölle. Gut, verriet mir einst
der heutige Entwicklungschef von BREITLING, wie sich das Dilemma lösen lässt.
WEG MIT DEM SPALT
Nur sind dafür umfangreiche Anpassungen nötig. Kein Problem beim
Gehäuse, weil wir das Giessverfahren selbst entwickelt haben. Ansonsten
kompliziert, weil wir keine Fabrik für Uhrglas und keine Kautschuk-Produktion
für Dichtungen haben und auch keine Gerberei für Uhrbänder, keine
Raffinerie für Schmieröl und keine Druckerei für Zifferblätter. SEIKO schon.
DEZENTRALE SPEZIALISIERUNG
Das japanische Firmen-Konglomerat stellt alle Uhrenteile selbst her: mit
13'000 spezialisierten Mitarbeitenden auf 300 Standorte dezentral verteilt.
Warum dezentral? Wäre zentralisiert nicht effektiver? Fakt ist: SEIKO wurde
1881 gegründet, um japanische Uhrengehäuse mit Import-Uhrwerken zu
bestücken, die in La Chaux-de-Fonds per ÉTABLISSAGE hergestellt wurden.
WER HAT’S ERFUNDEN?
Früher baut jeder Uhrmacher seine Uhren selbst und so bauen im 18. Jh. auch
in den «Fabriques Genevoises» mehrere Uhrmacher mehrere Uhren. La
Chaux-de-Fonds geht’s anders an, wie die New York Times kürzlich festhält:
«Einer stellte in der Werkstatt im Wohnzimmer Zifferblätter her, der Nachbar
spezialisierte sich auf Unruhen und ein weiterer Kollege produzierte Kronen».
La Chaux-de-Fonds 1863, rechts im Bild Eisenbahntunnel und Bahnhof
ERFOLGREICHE HOMEOFFICES
Diese «auf Arbeitsteilung beruhende Kooperation» nennt sich ÉTABLISSAGE
und ist erfolgreicher als die zentralisierten «Fabriques Genevoises», wie Karl
Marx 1867 aus Exportzahlen berechnet und hier Recht behalten soll: Immer
mehr Genfer Uhrenteile stammen aus La Chaux-de-Fonds und die dezentrale
Spezialisierung breitet sich über Le Locle und Fleurier in der Schweiz aus.
EIN PRINZIP SETZT SICH DURCH
Weil verschiedene Zulieferer:innen an der Herstellung einer Uhr beteiligt
sind, können sie sich auf Kompetenzen wie Uhrwerke, Zifferblätter oder
Zeiger spezialisieren, Fähigkeiten und Fertigkeiten fortlaufend verbessern
und so die Qualität steigern, während sie unabhängig und flexibel bleiben und
auf folglich Marktveränderungen beweglich und schnell reagieren können.
Postkarte mit Luftansicht von Le Locle. Undatiert, mutmasslich 1950er Jahre.
AGIL UND RESILIENT
So führen Entwicklungen in der Mode und beim Konsum zu innovativen
Produkten und Produktionen, während unabhängig angepasste Kapazitäten
und Mengen belastbare Lieferketten schaffen und zusätzlich Resistenz und
Resilienz, wofür exemplarisch die grossen Krisen des letzten Jahrhunderts
stehen. Nur liegen die Nachteile der ÉTABLISSAGE auch offen auf dem Tisch.
GUT UND TEUER
In Japan übernimmt der Weltkonzern SEIKO die Kosten der dezentralen
Spezialisierung, in der Schweiz werden sie mit dem Gütesiegel SWISS MADE
plausibilisiert, während die ÉTABLISSAGE wiederum den Qualitätsanspruch
SWISS MADE garantiert. Das heisst: Ohne SWISS MADE keine
ÉTABLISSAGE und ohne ÉTABLISSAGE kein SWISS MADE. Ein Problem:
Der Spalt verschwindet, da die Dichtung (rot) so im Gehäuse (violett) «versteckt» wird
TEUFLISCHER SPALT
Marken, mit ÉTABLISSAGE zu Konzernen gewachsen, brauchen sie nicht
länger und möchten die Wertschöpfung selbst generieren, während kleinere
Marken sich SWISS MADE kaum mehr leisten können. Warum, zeigt die Spalt-
Lösung von Massimo Longo, Konstrukteur bei OMEGA, ETA, ROVENTA-
HENNEX und heute BREITLING, alle durch ÉTABLISSAGE verbunden.
IN TEUFELS KÜCHE
Kleinere Uhrenhersteller:innen geraten immer dann in die Bredouille, wenn
eine Verbesserung zwar möglich, aber nicht SWISS MADE ist. Massimos
spaltfreie Lösung bedingt Uhrgläser, die vom Standard abweichen. Diese
werden in China 80 % günstiger gefräst als in der Schweiz. Konkret handelt es
sich um kratzfestes Saphirglas und eine vierstellige Differenz für 22 Uhrgläser.
Rendering des Modells UNI:SEX
SPALT ODER SPALTFREI
Die Produktion der 22 UNI:SEX-Urversionen ist eng kalkuliert, die erste Uhr
sollte deutlich unter 10'000 Franken kosten, darum haben wir kaum Luft, die
Luft im Spalt wegzukriegen. Gut, haben alle Käufer:innen die Prototypen
probegetragen, niemand erwartet eine spaltfreie Uhr. Nur werden ich und
Patrick vom Partnerbetrieb einfach nicht glücklich MIT Spalt. Was nun?
SPALTLOS GLÜCKLICH
FAKT 1: Patrick und ich streben 100 % SWISS MADE an. FAKT 2: Unsere Uhr
ist heute 98 % SWISS MADE, weil der Silizium-Anker nicht in der Schweiz
bezogen werden kann. FAKT 3: Eine Uhr gilt als SWISS MADE, wenn 60 % der
Teile in der Schweiz hergestellt sind. FAZIT: Wir schaffen mit einer roten Linie
neue Fakten: Unsere Uhren sind künftig mindestens 90 % SWISS MADE.
Oihane N. A. mit dem Prototyp der UNI:SEX Urversion.
VISION WURDE WAHR
So können wir ohne finanzielle Salti 22 spaltfreie Urversionen bauen. Enfin!
Gerne berichte ich im neuen Blog wieder über alltägliche Dramen, die Patrick
Gilomen und ich im ATELIER DES MONTRES NOTTARIS in Zuchwil und in
der Zürcher Entwicklungswerkstatt erleben. Wir, die nach der Matura vor 11
Jahren beschlossen, eines Tages gemeinsam eine Uhrenmarke zu gründen
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